Es ist kompliziert: Die Frage nach Identität und Objektivität

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Dieser Beitrag zieht ein erstes Fazit zum ersten Teil des Projekts. Eylül Tufan widmet sich dabei ausgehend von ihrer eigenen Biographie und Sozialisation der Frage nach Identität und Objektivität.

Bu makelede Eylül Tufan özdeşliği ve tarafsızlığı ithaf ediyor ve projeye bir sonuç cıkartiyor.

Eylül Tufan


Ein Beitrag von Eylül Tufan

Es ist kompliziert:
Die Frage nach Identität und Objektivität

„Gastarbeit“ in Schwetzingen sichtbar machen und eine lokale Migrationsgeschichte schreiben. So haben wir das Projektziel in unseren Grobkonzepten formuliert; darin waren wir uns einig. Zwar dient unser Projekt in erster Linie einem wissenschaftlichen Zweck, dennoch lässt sich eine gewisse gesellschaftspolitische Motivation nicht leugnen: ein Thema und eine Perspektive auf die Agenda setzen, die unserer Auffassung nach in der Geschichtswissenschaft und im kulturellen Gedächtnis Deutschlands zu wenig Aufmerksamkeit bekommen.

Hierfür haben wir im ersten Teil des Projekts und im Rahmen unseres Seminars Konzepte erstellt, Fragenkataloge formuliert und vor allem diskutiert – über Begriffe, Methoden und unsere Arbeitsweise. Es scheint als wären wir gerüstet, ausgestattet mit Aufnahmegerät und Klemmbrett unterm Arm, die ersten Zeitzeug*innen zu treffen und Interviews zu führen. Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass wir uns bisher ausschließlich theoretisch mit unserem Vorhaben beschäftigt haben. Wahrscheinlich haben wir dabei Erwartungshaltungen gegenüber den Zeitzeug*innen-Interviews entwickelt, die sich je nach Vorwissen, Interesse und aufgrund der eigenen Migrationsbiografie hinsichtlich der Nähe zum Forschungsgegenstand unterscheiden dürften.

Identität und Nähe zum Forschungsgegenstand

Angesichts der anstehenden praktischen Umsetzung des Projekts stellt sich die Frage, welche Rolle wir, die einzelnen Teilnehmer*innen des Seminars, im Projekt spielen, welche Vorannahmen und Motivation wir in das Projekt einbringen. Auch wenn der Anspruch besteht, in der Rolle der Historiker*in eine neutrale Haltung einzunehmen, bringt jede*r von uns seine/ihre eigene kleine Agenda in die Zeitzeug*innen-Interviews mit. Bei bestimmten Themen werden wir aufmerksamer zuhören und diejenigen Fragen stellen, die uns besonders interessieren. Andersherum werden wir vielleicht vergeblich eine erfolgreiche Integrationsgeschichte suchen, weil uns die gängige Erzählung nicht gefällt. Möglicherweise werden wir auch nur gelangweilt von den Geschichten unserer Interviewpartner*innen sein.

Niemand aus unserer Projektgruppe ist ein unbeschriebenes Blatt. Wir werden mit unterschiedlichen Vorannahmen und Erwartungen in die Interviews gehen – abhängig von der eigenen Sozialisation.
Foto: Free-Photos / CC0 / via Pixabay.

Erwartungen, Hoffnungen, Enttäuschungen
Als Enkelin von sogenannten „Gastarbeiter*innen“ (dritte Generation) bin ich mit der Frage konfrontiert, wie meine individuellen Erwartungen an das Zeitzeug*innen-Interview meine Interviewführung beeinflussen können. Beispielsweise könnte ich unterbewusst das in meiner Familie weitergegebene Narrativ von „Gastarbeit“ als bestätigt sehen wollen. Oder aber es könnte sich die genau gegenteilige Situation einstellen, in der ich vergeblich ein Gegennarrativ zu der Migrationsgeschichte meiner Familie suche. In beiden Fällen wäre es möglich, dass ich unbeabsichtigt meine Interviewführung an die Situation anpasse und meine Fragen so stelle, dass ich die Antworten bekomme, die ich hören möchte – und die in diesem Kontext den einen Teil meiner Identität als Enkelin von Arbeitseinwander*innen bestätigen.


Kein positivistisches Experiment, sondern Konstruktion von Geschichte

Aufgrund meiner – hier exemplarisch dargestellten – persönlichen Nähe zum Untersuchungsgegenstand sollte reflektiert werden, ob in der Interviewsituation eine distanzierte und professionelle Haltung gegenüber dem/der Interviewpartner*in eingenommen werden kann, um den Anforderungen an eine neutrale Interviewführung gerecht zu werden. Angesichts der Tatsache, dass eine Mehrheit unseres Seminars in der deutschen Einwanderungsgesellschaft sozialisiert ist und Immigration damit Teil unserer Lebensrealität ist, ist fraglich, ob Unvoreingenommenheit beim Thema „Gastarbeit“ überhaupt möglich ist. Zwar kann die eigene Migrationsbiografie oder die der Familie eine besondere Herausforderung hinsichtlich der Neutralität und Interviewführung darstellen. Allerdings ist anzunehmen, dass Zeitzeug*innen-Interviews immer anders verlaufen, wenn sie von unterschiedlichen Person durchgeführt werden – unabhängig davon, ob der/die Historiker*in aus einer Eiwanderfamilie stammt oder nicht.

Andersherum muss aber auch nach dem Einfluss der Erzählung der Zeitzeug*in auf uns gefragt werden: Was werden die Gespräche mit den Zeitzeug*innen mit uns machen? Werden mich die Erzählungen unserer Interviewpartner*innen an die Einwanderungsgeschichte meiner Großeltern erinnern? Werde ich in dem Erzählten vielleicht sogar einen Teil von mir selbst entdecken? Schließlich handelt es sich bei unserem Projekt nicht um ein positivistisches Experiment, sondern um eine soziale Konstruktion von Geschichte – und eben auch um eine Konstruktion unseres Selbst. Womit wir bei der altbekannten Notwendigkeit der Positionalität der Historiker*innen im Forschungsprozess angelangt wären.

Fremdzuschreibung und Positionalität

Wie aber verhält es sich mit der Neutralität in dem Fall, in dem neben der eigenen Positionalität eine weitere soziale Identität existiert, die einem von außen zugeschrieben wird? Etwa, wenn ich aufgrund äußerer Merkmale wie meinem Aussehen und meines Namens als migrantisch gelesen werde, was mit bestimmten Erwartungen an meine Person verbunden wird. Im Kontext des Zeitzeug*innen-Interviews kann dies bedeuten, dass meine Interviewpartner*innen schnell Vertrauen zu mir finden, weil sie mich als Teil der eigenen migrantischen Community betrachten. Diese Gesprächsdynamik kann sich positiv auf das Zeitzeug*innen-Interview auswirken. Schwierig kann es hingegen dann werden, wenn der/die Interviewpartner*in gezielt Elemente meiner vermeintlich migrantischen Identität oder aber bestimmte sich aus dieser ergebende Ansichten anspricht, um seiner-/ihrerseits mein Vertrauen zu gewinnen. Wird es mir in so einer Situation gelingen, die notwendige Distanz als Wissenschaftler*in zu wahren? Und Inwieweit ist meine Person in der Interviewsituation selbst an der (Re-) Produktion eines Narratives beteiligt, das ich als Historiker*in zu dekonstruieren versuche?

Es wird deutlich, dass die persönliche Nähe zum Thema „Gastarbeit“ einige Herausforderungen für die Interviewsituation mit sich bringen kann. Gleichzeitig aber soll betont werden, dass die eigene Migrationsbiografie oder die Migrationsgeschichte der Familie Potenziale bieten kann, beispielsweise im Umgang und Verständnis der Zeitzeug*innen.
Im zweiten Teil des Projekts, der Durchführung der Zeitzeug*innen-Interviews, werden wir die Theorie der Interviewführung in die Praxis umsetzen. Dabei wird sich zeigen, ob sich die hier dargestellten Szenarien bestätigen oder aber als unberechtigtes Unbehagen herausstellen werden. Letztlich lassen sich die hier aufgeworfenen und offengebliebenen Fragen nur praktisch, im Abgleich unserer Erwartungen mit der Realität, in der Interviewsituation mit den Zeitzeug*innen selbst beantworten.

Es ist kompliziert: Die Frage nach Identität und Objektivität
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