Drei Fragen, die sich jede*r vor einem Oral History-Interview stellen sollte

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In diesem Beitrag gibt Silvia Cornacchiari anhand von drei zentralen Fragestellungen eine praktische Anleitung zur Umsetzung der Oral History. Der Beitrag knüpft an den von Frau Aslan an und versucht eine Antwort auf die Frage „Wie funktioniert Oral History?“ zu finden.

Projemizin web sitesinin ya da çevrimiçi bloglarımızın değerli konukları. Bugün Silvia Cornacchiari üc soruyla bize “Sözlü tarih nedir, faydaları nelerdir?” sorusunu, cevapliyor.

Fabienne Bitz


Wie funktioniert Oral History?

Ein Beitrag von Silvia Cornacchiari

Drei Fragen, die sich jede*r vor einem
Oral History-Interview stellen sollte

Wenn man Zeitzeug*innen in einem „Oral History“-Interview befragen möchte, dann findet man in Bibliotheken oder im Internet unzählige Anleitungen und „To-Do-Listen“ für die Vorbereitung und für die Durchführung des eigentlichen Gespräches. Es ist allerdings schwierig, festzulegen, was das „richtige“ Vorgehen für Oral History ist: Jedes Thema, jedes Projekt, jede Situation ist unterschiedlich, pauschale Antworten gibt es nicht. Vielmehr hilft es, sich einige Fragen dazu zu stellen, was man in einem Zeitzeug*innen-Interview erfahren möchte und wie es dafür geführt werden muss. Auch dies hängt am Ende vom konkreten Thema ab; aber jede Person, die ein Oral History-Interview führen will, kommt an diesen drei Fragen nicht vorbei.

  1. Wen interviewe ich?

Am Anfang steht meistens der Wunsch, eine möglichst große Gruppe als „Stichprobe“ zu finden. Bei einem Projekt, das das „Gastarbeiter“-Leben in einem begrenzten lokalen Kontext unterersuchen will, ist der erste Gedanke bei der Zeitzeug*innen-Suche: Ich brauche auf jeden Fall Personen, die zu verschiedenen Zeiten nach Deutschland gekommen sind. Sowohl Frauen, die ihrem Mann ins Ausland gefolgt sind, als auch umgekehrt. Personen verschiedener Ethnien und Religionen. Personen, die in jungem Alter gekommen sind, und andere, die erst mit 40 oder 50 diese Möglichkeit hatten. Arbeiter*innen aus verschiedenen Bereichen. Und natürlich auch Kinder von „Gastarbeitern“. Ich muss schließlich einen möglichst breiten Überblick über das „Gastarbeiter“-Leben in meiner kleinen Stadt gewinnen!

Die Wahrheit ist: Nein, muss ich nicht. Historiker*innen führen in der Oral History keine Statistik. Wir fragen uns dabei nicht, wie viel Prozent unserer „Stichprobe“ als junge Menschen gekommen sind, wie viele in welcher Fabrik gearbeitet haben, wie viele sich gut mit den Deutschen verstanden haben oder nicht. Deswegen ist es nicht entscheidend, das gesamte Spektrum aller möglichen Kategorien von Menschen darzustellen. Es geht vielmehr darum, Personen zu finden, die mit uns sprechen möchten. Egal ob sechs, zehn oder zwanzig Zeitzeug*innen: Jede Person und jedes Interview ist als historische Quelle wertvoll an sich. Ein Interview mit seiner Vor- und Nachbereitung nimmt viel Zeit in Anspruch – also lieber ein Interview weniger, damit man die anderen gründlich analysieren kann, als zu viele, die am Ende nur oberflächlich ausgewertet werden.

Interviewsituation mit Simcha Rotem im Musuem der Geschichte von polnischen Juden in Warschau
Foto: „Simcha Rotem during interview in POLIN Museum of the History of Polish Jews in Warsaw“ / Joanna Król / CC BY-SA 4.0 / via Wikimedia Commons

2. Was frage ich?

Leider ist die Antwort auch hier, dass es keine endgültige Antwort gibt. Viele Historiker*innen tendieren zu „biografischen Interviews“, in denen die befragte Person „ihr Leben“ erzählen soll. Das ermöglicht, langfristige Zusammenhänge zu beobachten, zum Beispiel ob Episoden in der Kindheit einen Einfluss auf spätere Erlebnisse hatten. Dennoch werden Schwerpunkte gesetzt, die auf das Thema des Projekts abzielen – zum Beispiel das Leben als „Gastarbeiter“ in Deutschland –, über die auch die befragte Person Bescheid weiß. Das bedeutet, dass die Historiker*in das Ziel des Interviews immer klar vor sich haben sollte. Normalerweise hilft dabei ein Fragenkatalog, auf dem die schon besprochenen Themen abgehakt werden. Anhand des Themas und des Kataloges kann man immer nachfragen, wenn wichtige Aspekte übersprungen wurden oder etwas unklar ist. Es gehört zur Kunst des Interviews, zu verstehen, wann man geduldig weiter zuhören sollte und wann die Zeitzeug*in tatsächlich abschweift und man sie zurück zum Hauptthema führen sollte.

Das letzte Beispiel ist nur eine von vielen schwierigen Situationen, in denen sich Historiker*innen bei der Befragung wiederfinden können. Persönliche Fragen, Emotionen, Unterbrechungen, Verweigerung der Antwort: Was und wie kann ich in diesen Fällen noch fragen? Den richtigen Umgang damit gibt es nicht. Es hängt von der speziellen Situation ab, und noch mehr von der eigenen Persönlichkeit. Ein Interview erfordert eine umfangreiche Vorbereitung; dazu gehört nicht nur der Inhalt des Gesprächs oder der Fragen, sondern auch Überlegungen, was vielleicht abhängig vom Thema schief gehen könnte. Es geht jedoch nicht darum, pessimistisch zu sein, sondern für verschiedene Möglichkeiten bereit sein.

3. Und was mache ich jetzt damit?

Nachdem man das Interview geführt hat, wird die Aufnahme normalerweise abgetippt. Unter Historiker*innen ist umstritten, wie gut ein mündliches Gespräch in schriftlicher Form wiedergegeben werden kann. Es gilt aber wieder die Grundregel: Lieber etwas zu viel als zu wenig abtippen und kommentieren (zum Beispiel Pausen im Gespräch oder Emotionen). Es wäre sinnlos, Informationen wegzulassen, und dann doppelt so viel Zeit damit zu verlieren, ein doch wichtiges Detail nachträglich in der Aufnahme zu suchen.

Wie bei jeder historischen Quelle soll das Oral History-Gespräch schließlich interpretiert werden, damit wir es für unser Projekt nutzen können. Die Historikerin Dorothee Wierling beschreibt sehr ausführlich die Methoden und die Schritte für diese Interpretation. Am wichtigsten ist, sich im Klaren darüber zu sein: Was will ich wissen? Deshalb ist die Frage „Was mache ich mit meinen Interviews?“ nicht die dritte, sondern die erste Frage, die wir uns stellen sollten, denn die Antwort darauf beeinflusst den ganzen Prozess.

Wie am Anfang erwähnt, macht Oral History selten Statistik. Auch sind Historiker*innen keine Polizist*innen oder Richter*innen, die die lückenlose und widerspruchsfreie „Wahrheit“ feststellen wollen. Es bedeutet gleichzeitig aber nicht, dass wir alles hinnehmen müssen, was Zeitzeug*innen uns erzählen – sie können schließlich Fehler machen, vor allem wenn ihre Erfahrungen lange zurück liegen. Wir können und sollen ihre Worte mit anderen Quellen, Dokumenten, Berichten etc. abgleichen. Doch in solchen Interviews zählen seltener die reinen Fakten, sondern eher persönliche Wahrnehmungen, Erlebnisse, Eindrücke, die wir in anderen Dokumenten nicht finden. Unsere Leitfragen sollten sich also an diese Subjektivität richten – und die Oral History lehrt uns, diese subjektiven Erzählungen als Quellen ernst zu nehmen, egal ob sie in unsere Vorstellung passen oder nicht.

***

Anleitungen und Checklisten können dabei helfen, ein Oral History-Interview vorzubereiten. In Wahrheit ist aber jede Situation unterschiedlich, deshalb helfen keine allgemeinen Lösungen, sondern eher Fragen, die man sich vor einem Interview stellen sollte und auf die verschiedene Antworten möglich sind. Am Ende geht es vor allem darum, die Fragen für das eigene Projekt zu stellen, die nur diejenigen beantworten können, die die Vergangenheit selbst erlebt haben. Und damit auch ihre Perspektive zu berücksichtigen und ihre Erinnerungen für die Nachwelt festzuhalten.

Literatur:

Lichtblau, Albert: Oral History lässt sich nicht unterrichten?, in: BIOS 31 (2018), S. 9–22.

Oral History Association (2012): Web Guides to Doing Oral History, in: www.oralhistory.org, [online] https://www.oralhistory.org/web-guides-to-doing-oral-history/ [18.12.2020].

Oral History – Praktische Hinweise zur Interviewsituation [ein Projekt der Studierenden des Masters „Public History“ an der FU Berlin, WS 2015/16], in: www.userblogs.fu-berlin.de, [online] https://userblogs.fu-berlin.de/oralhistory/das-interview/praktischehinweise/#Interviewleitfaden [18.12.2020].

Wierling, Dorothee: Oral History, in: Aufriss der historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, hrsg. v. Michael Maurer, Stuttgart 2003, S. 81–151.

Yow, Valerie: Interviewing Techniques and Strategies, in: The Oral History Reader (Routledge Readers in History), hrsg. v. Robert Perks und Alistair Thomson, London/New York 32016, S. 153-178.

Drei Fragen, die sich jede*r vor einem Oral History-Interview stellen sollte

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