In each of us there is a small piece of history

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In diesem Beitrag beantwortet Fabian Wolf die Frage „Was ist Oral History?“. Am Beispiel des Dokumentarromans „Der Krieg hat kein weibliches Geschlecht“ von Svetlana Alexijewitsch aus dem Jahr 1985 zeigt der Autor die Vorteile der „Geschichte von unten“ für die Integration der Perspektive von „Gastarbeiter*innen“ in die Geschichtswissenschaft auf.

Projemizin web sitesinin ya da çevrimiçi bloglarımızın değerli konukları, bugün Fabian Wolf „Oral History nedir?“ soruyu cevaplıyor. Yazarımız „Der Krieg hat kein weibliches Geschlecht“ (Svetlana Alexijewitsch, 1985) başlık ile belgesel romanın örneğinde, „aşağıdan tarihin“ „misafir işçilerin“ görselleştirmesi için avantajlarını işaret ediyor.

Eylül Tufan


Was ist Oral History?

Ein Beitrag von Fabian Wolf

„In each of us there is
a small piece of history“

“I believe that in each of us there is a small piece of history. In one half a page, in another two or three. Together we write the book of time. We each call out our own truth. The nightmare of nuances.”

Svetlana Alexijewitsch, 2018

Das Zitat stammt aus einem Buch der weißrussischen Autorin Svetlana Alexijewitsch. In seiner Erstauflage erschien es im Jahr 1985. In ihrem Dokumentarroman „Der Krieg hat kein weibliches Geschlecht“ schildern sowjetische Frauen, die im Zweiten Weltkrieg an der Front dienten, ihre Erfahrungen. Die Autorin sprach mit Sanitäterinnen, Soldatinnen und zivilen Helferinnen. Die Frauen berichteten von ihren schrecklichen Erlebnissen, aber auch von der Euphorie, mit der sie für ihr Vaterland kämpften. Im Jahr 2015 erhielt sie für ihr Werk den Literatur-Nobelpreis.

Alexijewitschs Dokumentarroman verdeutlicht, was Oral History leisten kann: Einblicke in die Alltags- und Lebenswelt von Menschen der Vergangenheit geben, die in der „klassischen“ Historiographie eher selten vorzufinden sind. Insbesondere Geschichtsschreibung, die sich vorwiegend auf schriftliche Quellen aus institutionellen Kontexten stützt, ist oft nicht in der Lage diese persönlichen Erfahrungen von Menschen darzustellen. Für die Einbettung von authentischen Erfahrungen in die Geschichtswissenschaft ist die Oral History daher unumgänglich.

Im Folgenden werde ich versuchen, neben grundlegenden Gedanken und Informationen zu dieser Methode, auch ihre Vorteile und Möglichkeiten aufzuzeigen. Daneben werde ich auch die Kritik an ihr, die Probleme, die mit ihr einhergehen und die Erkenntnisse, die sie nicht liefern kann, nicht außer Acht lassen.

Perspektivenwechsel als Potenzial

Selbstverständlich können auch Briefe oder Tagebucheinträge persönliche Erfahrungen von Menschen aus unterschiedlichen Epochen schildern. Die Oral History birgt aber aus mehreren Gründen, auf die ich im Folgenden zu sprechen komme, Vorteile gegenüber der „herkömmlichen“ quellengebundenen (z.B. in Form von Akten) Historiographie, in sich: Sie besitzt ein noch größeres Potenzial die erzählenden Personen zu Wort kommen zu lassen und von ihren Erfahrungen noch detaillierter, oftmals auch in einer emotionaleren Weise, berichten zu lassen. Zweitens besitzt die Oral History einen eher prozesshaften Charakter: Man kann mithilfe von ihr die Einflüsse wichtiger Ereignisse der Vergangenheit auf Menschen nachvollziehen und versuchen zu verstehen, wie diese Vorkommnisse das Leben der Interviewpartner*innen verändert oder sogar bestimmt haben.

Jeder Mensch hat nicht nur eine eigene Geschichte, sondern trägt auch ein Stück Geschichte in sich – die Oral History macht diese sichtbar.
Foto: Pexels / CC0 / via Pixabay

Alexijewitschs Zitat am Anfang führt uns darüber hinaus auch Folgendes vor Augen: Da in jedem von uns eine eigene Geschichte steckt, scheint die Menge an Informationen, die wir aus Gesprächen gewinnen können, schier unendlich. Die daraus resultierende Schwierigkeit ist, von dieser Fülle an Gedanken, Meinungen und Angaben das zu abstrahieren, was für die Geschichtswissenschaft von Bedeutung ist. Alexijewitsch verwendet in diesem Zusammenhang sogar den Begriff „nightmare“. Es kann ein wahrer Albtraum sein, wie viele Kleinigkeiten und Details in den Erfahrungen von Menschen zu beachten sind. Doch genau diese unterschiedlichen Wahrnehmungen von Menschen, die die Oral History widerspiegeln kann, macht sie als Methode der Geschichtsschreibung sinnvoll.

Sichtbarmachung von marginalisierten Gruppen und „Geschichte von unten“

Die Heterogenität von Gruppen oder Kollektiven kann mit ihrer Hilfe aufgezeigt werden. Um beim Beispiel von Alexijewitschs Dokumentarroman zu bleiben: Die anfänglichen Motivationen der Rotarmistinnen divergierten bei ihrer Berufung. Sie ließen sich nicht lediglich auf ein Pflichtbewusstsein gegenüber ihrem Vaterland reduzieren. Stattdessen zeigen die Gespräche, dass die Motivationen der Frauen von Abenteuerlust über bloßes Heldentum bis hin zu Emanzipationsbegehren reichen konnten. Die Oral History bietet den Frauen die Möglichkeit, ihre Gedanken und Erfahrungen gegenüber den Interviewer*innen zu äußern.

Ein weiterer erwähnenswerter Aspekt der Oral History ist, dass sie Menschen aus Gruppen oder Schichten eine Stimme verleihen kann, die in der Geschichtsschreibung bisher nur wenig Beachtung erfahren haben. Viele bezeichnen sie daher auch als „Geschichte von unten“.
Die Oral History erhebt den Anspruch, nicht das große politische oder soziale System zu untersuchen, sondern explizit den Menschen, die Teil dieses Systems sind, zuzuhören. Es ist nicht ihr Ziel, die großen politischen Entwicklungen oder sozialen Veränderungen innerhalb von Gesellschaften nachzuzeichnen, sondern deren Wirkung auf das Leben von Individuen zu erforschen.

Geschichte der Oral History

Die Oral History entwickelte sich erst in den 1940er Jahren in den USA als Methode der Geschichtswissenschaft. Dort wurde auch der Begriff geprägt. Aus heutiger Sicht ist es ein wenig verwunderlich, dass sich die Methode der Tradierung und Erzählung erst so spät durchsetzen konnte, da die mündliche Überlieferung seit Jahrtausenden ein probates Mittel zur Weitergabe von gesellschaftlichen, religiösen oder historischen Informationen ist.

Über Großbritannien erreichte die Oral History in den 1970er Jahren Kontinentaleuropa. Anfangs fand sie unter Historiker*innen, Soziolog*innen und Politolog*innen Verwendung, die oftmals Interesse am Prozess der Demokratisierung und Emanzipation zeigten. Die Erfahrungen der Interviewten, nicht-elitären Personen sollten von der Geschichtswissenschaft anerkannt werden. Denn bis sich die „Geschichte von unten“ herausgebildet hatte, waren es vornehmlich die mächtigen und einflussreichen Personen, die Gegenstand der Forschung waren. Hinzu kam, dass sich die Historiographie im 19. Jahrhundert stark auf schriftliche Zeugnisse stützte, die oftmals von führenden Akteur*innen und aus staatlichen Institutionen stammten. Da insbesondere im ausgehenden 19. Jahrhundert die bürokratischen Apparate immer weiter anwuchsen, vermehrten sich auch die administrativen Quellenbestände. Die Oral History kann meines Erachtens als eine „mündliche Reaktion“ auf die stark auf schriftliche Quellen gestützte Historiographie, die ihr vorausging, verstanden werden.

Als die Oral History in den 1970er Jahren Einzug in Deutschland hielt, fand sie zunächst häufig im Kontext von Lokalgeschichte und Geschichtswerkstätten Verwendung. An diesen Projekten arbeiteten in der Regel Laienhistoriker*innen mit professionellen Historiker*innen zusammen. Man kann die Oral History daher durchaus als wichtiges Bindeglied zwischen den beiden Gruppen verstehen.

Kritik an der Oral History

Seit den 1980er Jahren erfuhr die Methode jedoch auch starken Gegenwind. Die Kritiker*innen klagten über fehlende wissenschaftliche Relevanz der Interviews, über die Grenzen von menschlichen Erinnerungs- und Gedächtnisleistungen und kritisierten sowohl die Subjektivität als auch die eigene Beteiligung von Historiker*innen beim Entstehungsprozess ihrer Quellen. Doch lässt insbesondere die Kritik an der Leistung des menschlichen Erinnerungsvermögens außer Acht, dass es eben nicht um exakte Darstellung und Wiedergabe von Informationen von bestimmten Ereignissen geht, die die zu Interviewenden wiedergeben sollen. Vielmehr sind die folgenden, bereits erwähnten Fragestellungen zentral für die Aussagen der Interviewpartnerinnen: Was können wir anhand der Interviews mit Zeitzeug*innen über die inneren Prozesse einer Gesellschaft lernen? Wie wirkten sich Veränderungen des Systems auf die Lebensweise und Gedankenwelt der Menschen aus? Wie entwickelten sich Konsens, Dissens und Vielfalt innerhalb der Gesellschaft?

Außerdem beachtet die Kritik an der Subjektivität der Methode nicht, dass jede Art von Quelle einen subjektiven Charakter innehat. Selbst eine schriftliche bürokratische Quelle kann beispielsweise in ihrer Formulierung vom Verfasser subjektiv geprägt sein. Spätestens jedoch bei der Interpretation dieser „klassischen“ Quellen wenden Historiker*innen eigene, subjektive Interpretationen an. Die Disziplin Geschichtswissenschaft kann also ohnehin nicht ohne individuelles Gedankengut funktionieren.

„Die Oral History kannn als eine „mündliche Reaktion“ auf die stark auf schriftliche Quellen gestützte Historiographie, die ihr vorausging, verstanden werden.“

Oral History und Erinnerungskultur

Des Weiteren kann man die Wichtigkeit von Erinnerungskultur, insbesondere in Deutschland, nicht überbetonen. Für die Erinnerungsgeschichte sind Berichte von Zeitzeug*innen von höchster Wichtigkeit. Befassen sich Historiker*innen beispielsweise mit den Vernichtungs- und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, sind die Interviews mit Betroffenen unverzichtbar. Daneben können die Gespräche mit ihnen oftmals bereits festgefahrene Deutungsmuster der Geschichte aufbrechen und uns andere Sichtweisen und Dimensionen der Vergangenheit präsentieren. Biografische Erinnerungen verdeutlichen uns immer wieder von Neuem, dass es nicht nur die eine wahre Geschichte gibt. Das eingangs erwähnte Werk Alexijewitschs kann ebenfalls für den Kontext des Zweiten Weltkriegs als wichtiger Beitrag zur Erinnerungsgeschichte betrachtet werden, da es viele überholte Vorstellungen über die Rotarmistinnen revidierte und uns neue Sichtweisen vermittelt.

Auch die Erfahrungen von Menschen, die in der DDR einem Unrechtsstaat ausgesetzt waren, boten und bieten hierzulande viel Potenzial für Gespräche mit Zeitzeug*innen. Die Auswirkungen der verschiedenen politischen Systeme Deutschlands innerhalb der letzten Jahrzehnte sollten nach wie vor Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen sein, bei der die Oral History eine hilfreiche Methode darstellen kann.

Es kann, nebenbei erwähnt, auch sinnvoll sein, die Arbeit mit Zeitzeug*innen in die Schulen hineinzutragen, um ein Interesse bei den Schüler*innen zu erwecken und sie möglichst früh mit mehreren Perspektiven zu konfrontieren.

Eine Kombination aus klassisch-quellenbezogener Geschichtswissenschaft und Oral History

Meines Erachtens sollte man es sich nicht zur Aufgabe machen, für eine rein auf Oral History gestützte Geschichtswissenschaft zu plädieren. Stattdessen bieten sich in vielen Forschungsbereichen Kooperationen zwischen Historiker*innen an, die sich eher auf eine klassisch-quellenbezogene politische Historiographie stützen und solchen, die lieber mit Erfahrungen von Interviewpartner*innen arbeiten. Oral History besitzt nicht nur das Potenzial für multiperspektivische, demokratische und gendergerechte Historiographie. Sie kann darüber hinaus auch zu vielversprechenden Kooperationen zwischen verschiedenen Gruppen von Historiker*innen (einschließlich der Laienhistoriker*innen) führen. Im Fall der Forschung über die DDR konnte und kann die Methode Historiker*innen aus Ost und West mit möglicherweise verschiedenen Denkansätzen zusammenführen.

Die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Oral History lässt sich mit dem leicht kitschig anmutenden, aber dennoch gehaltvollen Zitat Alexijewitschs am Anfang meines Beitrags gut zusammenfassen: „[…] in each of us there is a small piece of history.“


Literatur

Alexijewitsch, Svetlana: The Unwomanly Face of War, New York 2018.

Fieseler, Beate: Frauen im Großen Vaterländischen Krieg, in: www.dekoder.org, [online] https://www.dekoder.org/de/gnose/frauen-rote-armee-krieg [01.12.2020].

Hellriegel, Lisa (2020): Achtes Netzwerktreffen-Oral History 2020, in: www.hsozkult.de, [online] https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8726 [01.12.2020].

Lemmerer, Manuel/Resch, Marco (2020): Was ist Oral History, in: www.geschichtsdidaktik.com, [online] https://www.geschichtsdidaktik.com/projekte/oral-history-umweltschutz/oh-was-ist-oral-history/ [30.11.2020].

Leusch, Peter (2014): Geschichte durch Zeitzeugen lebendig machen, in: www.deutschlandfunk.de, [online] https://www.deutschlandfunk.de/erinnerungskultur-geschichte-durch-zeitzeugen-lebendig.1148.de.html?dram:article_id=302431 [27.11.2020].

Pagenstecher, Cord (2016): Oral History als Methode, in: www.bpb.de, [online] https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ns-zwangsarbeit/227274/oral-history-als-methode [30.11.2020]

Plato, Alexander von: Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der „mündlichen Geschichte“ in Deutschland, in: Oral history (Basistexte Geschichte, Bd. 8), hrsg. v. Julia Obertreis, Stuttgart 2012, S. 73–95.

Plato, Alexander von: Zeitzeugen und historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss, in: BIOS 13 (2000), S. 5–29.

Wierling, Dorothee: Oral History, in: Aufriss der historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, hrsg. v. Michael Maurer, Stuttgart 2003, S. 81–151, hier S. 81–105.

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In each of us there is a small piece of history

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